Kunst
Verwischt die Kunst die Grenze zwischen dem Selbst und dem Anderen?
Intuitiv nutzte demgegenüber die Künstlerin Sabina Grasso die Fotografie als Mittel gegen Panik-attacken, die sie hin und wieder stundenlang in kompletter Körperstarre gefangen hielten. So verbrachte sie beispielsweise einen halben Tag auf den Stufen eines Bahnhofs, unfähig sich zu bewegen. Um diese Krisen zu überwinden, begann sie, während ihrer Anfälle Selbstporträts zu machen. Die künstlerische Praxis ist hier eingebettet in den gedoppelten Übergang zwischen Künstlersubjekt und öffentlichem Objekt: Künstler treten aus sich selbst heraus, um ihr Werk kritisch zu prüfen und vollführen dabei zugleich einen Balanceakt zwischen den Positionen eines In- und Outsiders. In den Worten Baudelaires: „Ein Künstler ist ein Künstler nur unter der Bedingung einer gedoppelten Person und wenn er sich darauf einlässt, kein Phänomen seiner gedoppelten Natur zu ignorieren.“ Das Sich-Selbst-Erblicken in ihrem hilflosen Zustand vermittelte Sabina Grasso das notwendige Selbstbewusstsein, danach zu trachten, Kontrolle über ihr eigenes Bild zu gewinnen. Als sie dies erreicht hatte, konnte sie die Attacken durch eine Verhaltensänderung schließlich überwinden. Gerade so, wie Spiegel unsere Empfindung des eigenen Selbst verdoppeln, wirkt die Kunst für den Künstler, der sie produziert.
Immer wieder überwinden Künstler die Grenzen der Propriozeption und es gelingt ihnen, die Erfahrung des entgrenzten Fluktuierens in einem Maße deutlich werden zu lassen, dass der Eindruck entsteht, es sei der Kunstproduktion inhärent, mit diesen Grenzüberschreitungen zu jonglieren. André Salmon stellte fest, dass sich „Künstler regelrecht konfrontiert sehen mit den schreckenerregenden Spiegeln ihrer Leinwände“. Dabei bezog er sich auf jene Vorstellungen und Dämonen, von welchen sich die Pariser Künstler im frühen 20. Jahrhundert bedrängt fühlten. Sicherlich ist es ein ganz wesentliches Anliegen der Kunst, Bilder sowie Formen und Materialien, Worte oder Töne an die physische Realität zurück zu vermitteln, nachdem sie Imagination und Bedeutung in sie eingeschrieben hat. Andererseits geht es ihr darum, die Vorstellungskraft derart zu formen, dass sie die weltliche Realität nicht nur reflektiert, sondern auch regelrecht darauf Einfluss nimmt. Für den metaphysisch inspirierten und agierenden Künstler Giorgio De Chirico müssen Kunstwerke als solche das, was wir sehen, mit dem kombinieren, was wir nicht sehen. In der Tat sprechen Kunstwerke Bedeutungsebenen jenseits des reinen Objekthaften an: Typischerweise werden eine Bildfläche, die Oberfläche einer Fotografie oder auch eine Filmleinwand visuell wie die metaphorischen Grenzzonen eines Spiegels oder Fensters wahrgenommen. Wenn uns ein Künstler dazu bewegen kann, durch diese Schichtungen hindurch- und in seinen Gedankenraum einzutreten, fangen wir an, uns darin zu projizieren und uns ins Verhältnis zu den dort vorfindbaren Akteuren zu setzen.
Wir selbst werden zum Spiegel für andere
Spiegel erweitern unseren Sinn für Realität, indem sie uns die Beobachtung des eigenen Körpers ermöglichen. Daher stehen sie emblematisch für die Trennung sowie für die Verbindung von Subjekt und Objekt, wie auch von der Welt des Physischen und Virtuellen. Die Theorie der Spiegelneuronen besagt, dass wir über Neuronen verfügen, die, egal ob wir selbst handeln oder andere bei der Ausführung einer entsprechenden Handlung beobachten, in gleicher Weise aktiv sind. Sie erklärt, warum wir in der Lage sind, die Handlungen anderer Menschen nachzuahmen (ein wichtiger Prozess im Lernvorgang) und warum wir uns in unsere Mitmenschen einfühlen können (eine Grundbedingung für den sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft). Letztlich werden wir damit selbst in umgekehrter Blickrichtung für andere Menschen zum Spiegel.
Fotografien und bewegte Bilder lassen sich durch die Gegenstände, die sie hervorgebracht haben, wie etwa die Camera obscura, Camera lucida und Laterna magica, als komplexe Nachkommen des Spiegels begreifen, da sie in der Lage sind, Reflexionen aufzuzeichnen, zu verlängern und zu wiederholen. Insbesondere regte die Videotechnik seit ihren Anfängen in den späten 1960er Jahren als ein leicht zu handhabendes Verfahren, das Bilder kostengünstig und ohne den Aufwand einer ganzen Filmcrew liefert, zahlreiche Aktivitäten zur Erforschung des eigenen Selbst an. All diese Techniken und Instrumente wurden ausgiebig zum einen von Künstlern zur Produktion von Kunstwerken, zum anderen aber auch von Neurowissenschaftlern für die Durchführung von Experimenten genutzt.
Ein Wimpernschlag der Konfusion
Pioniere in der Dekonstruktion der Phänomenologie des Sehens wie Dan Graham und Vito Acconci begannen schon in den späten 1960er Jahren die Rollen von Akteuren und Publikum, Objektivität und Subjektivität, Öffentlichkeit und Privatheit umzukehren. Als einziger Schauspieler in „Undertone” (1973) wendet sich Vito Acconci über das illusionäre Medium des Fernsehmonitors an die Zuschauer, als ob es eine Kontinuität zwischen dem realen und virtuellen Raum gäbe: „Ich brauche Sie, um meine Lügen herauszufiltern, um die Unwahrheiten von den wahren Auffassungen zu scheiden.“ Durch das illusionäre Angebot einer Reaktionsmöglichkeit auf seinen inneren Monolog schafft der Künstler – den angenehmen Voyeurismus, den die Zuschauer üblicherweise empfinden, bewusst störend – ein Unbehagen. In einer Serie von Installationen, die sich auf Spiegel, Videodokumentationsanlagen und Zeitverzögerungssimulatoren stützen, bringt Dan Graham beim Betrachter die Wahrnehmung der gegenwärtigen Zeit ins Wanken. Wenn wir ein Bild von uns selbst mit einem Zeitverzug von fünf Sekunden vorgestellt bekommen, nehmen wir den zeitlichen Versprung kaum wahr, da dieser innerhalb des zeitlichen Rahmens unseres neurophysiologisch angelegten Kurzzeitgedächtnisses liegt. Dennoch empfinden wir widersprüchliche Eindrücke. Wir identifizieren unser gegenwärtiges Verhalten mit jenem, das fünf Sekunden zuvor stattgefunden hat. Wir antworten aber auch darauf und werden damit in einer Feedback-Schleife festgesetzt. Wir empfinden uns in einem Zustand der Beobachtung gefangen, in dem wir, die Beobachter, uns als die beobachteten Beobachter erfahren.
Spiegel multiplizieren Bilder, die das Teilungsprinzip imitieren, welches aller organischen Entwicklung zugrunde liegt. Die Vorstellungskraft von Schriftstellern und Künstlern wird durch diese Bilder inspiriert, als wären sie irritierend belebte Objekte, die das Leben der Menschen ausspionierten und labyrinthische Welten produzierten, glaubwürdig genug, um ein Oben und Unten unterscheidbar zu halten, jedoch unheimlich zugleich bis zu jenem Punkt, an welchem sich Rechts und Links umkehren (wie in den Fotos von Hreinn Friðfinnsson nebenan). Reflexionen, Spiegelbilder, Doppelgänger und Zwillinge; Symmetrie, Zufall, Korrespondenz und Tautologie; Umkehrungen und vereinte Gegensätze; Zirkularität, Synchronie und Palindrome; virtuelle Realität und Voyeurismus; das Unendliche und das Ewige als Wiederholung des stets Gleichen: All diese Qualitäten werden Spiegeln zugeschrieben oder mit ihnen in Verbindung gebracht. All diese Qualitäten werden in den Ausstellungsobjekten adressiert.